Die Herausforderung des traditionellen Karrieremodells
Traditionell gilt der Aufstieg in Positionen mit Personenführungskompetenzen als Symbol beruflichen Erfolgs, wobei die Anzahl unterstellter Mitarbeitenden als Maßstab für die Bedeutung einer Position im Unternehmen angesehen wird. Dieses Modell belohnt oftmals diejenigen mit ausgeprägtem Fachwissen, indem es ihnen ein Team zur Führung überträgt, sobald sie eine gewisse Expertise und Seniorität erreicht haben. Obwohl nicht jeder Expertin einen Wechsel in die Personenführung anstrebt oder die erforderlichen Führungsfähigkeiten besitzt, sind der Wunsch nach Anerkennung oder der mit einem Wechsel verbundene Aufstieg in eine höhere Gehaltsstufe oft starke Anreize, eine solche Rolle anzunehmen. Gleichzeitig stoßen Individuen mit hoher emotionaler Intelligenz (EI), die für Führungspositionen prädestiniert wären, oft auf unüberwindbare Barrieren, wenn sie nicht zur fachlichen Elite gehören.
Die traditionelle Vorstellung von Karrierefortschritt basiert auf der Übernahme von Führungsverantwortung. Eine Ingenieurin, Technikerin oder Wissenschaftlerin, der/die sich durch fachliche Arbeit hervorgetan hat, wird häufig mit der Leitung eines Teams betraut. Die Praxis übersieht jedoch oft, dass herausragendes Fachwissen nicht zwangsläufig mit exzellenten Führungsqualitäten einhergeht, und dass die von ihm/ihr betreuten Mitarbeitenden möglicherweise eine Führung benötigen, die nicht auf technischer Expertise basiert, sondern auf emotionaler Intelligenz, Empathie und effektiver Kommunikation um ihre eigene, fachspezifische Expertise voll entfalten zu können; von einer fachlichen Koryphäe zu lernen zu können bedeutet nicht zwangsläufig, von dieser auch geführt werden zu müssen.
Um diese Problematik zu adressieren, ist es essenziell, die Karriereleiter zu überdenken und alternative Karrierewege zu schaffen. Unternehmen sollten erkennen, dass nicht jeder die nötigen Eigenschaften für eine förderliche Führungsperson besitzt und dass es andere Wege gibt, individuelle Talente und Leistungen anzuerkennen und zu belohnen. Eine Möglichkeit besteht darin, Laufbahnen für Fachexpertinnen zu etablieren, die den Wert tiefgreifenden Fachwissens betonen und entsprechende Anerkennung sowie Vergütung bieten, ohne dass das Leiten von Teams vorausgesetzt wird.
Emotionale Intelligenz: Der unterschätzte Faktor in Führungspositionen
Während der Wert von Fachwissen in Führungspositionen oft überschätzt wird, wird emotionale Intelligenz – die Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen zu erkennen, zu verstehen und sinnvoll darauf zu reagieren – häufig unterschätzt. Personen mit hoher emotionaler Intelligenz verfügen über Fähigkeiten wie Empathie, Konfliktlösung und Motivation anderer, die sie zu idealen Kandidaten für Führungspositionen machen. Dennoch finden sich EI-starke Individuen selten in den oberen Rängen der Unternehmenshierarchie wieder.
Das «Peter-Prinzip» beschreibt das Phänomen, dass Talente in Organisationen häufig so lange befördert werden, bis sie eine Position erreichen, in der sie inkompetent sind. Eine unkonventionelle Interpretation des Peter-Prinzips ist, dass Personen mit ausgeprägten zwischenmenschlichen Fähigkeiten, die jedoch nicht zur fachlichen Spitze gehören, oft nicht die Anerkennung und Beförderung erhalten, die ihrem Potenzial als Führungsperson entsprechen würden.
Neudefinition von Karrierepfaden
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es an der Zeit, Karrierepfade neu zu definieren:
- Spezialisierung statt Generalisierung: Unternehmen sollten Karrierewege schaffen, die es Fachexpert*innen ermöglichen, in ihrem Gebiet aufzusteigen, ohne Führungsverantwortung übernehmen zu müssen. Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, die tiefgreifendes Fachwissen mit Entscheidungskompetenzen würdigen, bieten eine motivierende Perspektive für langfristige Karriereentwicklung.
- Führungskarrieren für EI-Talente: Parallel dazu sollten Beförderungsmethoden etabliert werden, die die Stärken von EI-starken Talenten früh identifizieren und anerkennen, ohne diese nur nach ihren fachlichen Kompetenzen zu bewerten. Neue Metriken zur Bewertung zwischenmenschlicher Fähigkeiten, Empathie und Teamdynamik können Organisationen helfen, geeignete Führungskräfte auszuwählen.
- Doppelführung mit klarer Kompetenzteilung: Für bestehende Teams könnte das Konzept der Doppelführung eingeführt werden, bei dem technische und personelle Führungsverantwortlichkeiten zwischen zwei Personen aufgeteilt werden. Dies ermöglicht eine klare Trennung von Fach- und Führungsaufgaben, wobei jeder Leiterin seine/ihre Stärken einbringt.
Die Neugestaltung von Karrierepfaden, die sowohl Fachexpert*innen als auch emotional intelligenten Talenten gerecht wird, stellt eine wesentliche Evolution im modernen Arbeitsumfeld dar. Indem Unternehmen alternative Karrierewege schaffen, die emotionale Intelligenz gleichwertig neben technischer Expertise stellen, können sie die Vielfalt menschlicher Talente besser nutzen und ein ganzheitliches, positives Arbeitsumfeld fördern.
Die Umsetzung dieser Konzepte erfordert eine umfassende Überarbeitung bestehender Wertschätzungs- und Beförderungspraktiken, eine offene Unternehmenskultur und eine Führung, die traditionelle Vorstellungen von Erfolg und Karrierefortschritt hinterfragt. Letztendlich profitieren sowohl die Mitarbeitenden als auch die Unternehmen von einer widerstandsfähigeren, agileren und innovativeren Organisation, die bereit ist, die Herausforderungen der Zukunft anzugehen.
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